Neulich fragte mich wieder jemand in der Praxis:
„Marei, was ist eigentlich Regulation vom Nervensystem?“
Weil sich in meiner Arbeit so vieles um das Nervensystem dreht, möchte ich heute eine Geschichte erzählen. Oder besser gesagt: zwei.
Montagmorgen. Ich will los, der Tag ist eng getaktet – und dann sehe ich es: Reifen platt. Hinten rechts. Komplett. Der Übeltäter? Eine Schraube.
Und der Witz an der Geschichte? Genau das Gleiche war mir bereits eine Woche zuvor passiert. Zwei Montage in Folge. Zwei platte Reifen. Zwei Schrauben.
Ich stand also wieder beim Reifenhändler im Schippelsweg. Der sagte nur: „Sie glauben gar nicht, wie viele Leute in letzter Zeit mit sowas reinkommen. Wegen der ganzen Baustellen hier fliegen überall Schrauben und Nägel rum. Ich habe gerade richtig gut zu tun.“
Früher hätte mich das komplett aus der Bahn geworfen. Ich hätte geflucht, geschwitzt, innerlich der Tag schon gelaufen. Und klar – das hilft niemandem. Schon gar nicht dem Reifen.
Heute passiert etwas anderes. Ich atme kurz. Ich merke den Impuls, mich zu ärgern – und lasse ihn einfach da sein.
Mein System fährt kurz hoch, aber es bleibt nicht dort.
Ich bleibe handlungsfähig.
Innerlich denke ich: „Ok. Montag eben. Reifen-Schraube-Edition.“
Ich organisiere Hilfe. Ich bleibe im Kontakt – mit mir, mit dem Moment.
Das ist Regulation. Nicht, dass nichts mehr passiert. Sondern, dass ich nicht gleich „mitpassiere“ – in die Überreaktion, in die Starre, in den inneren Alarm.
Sondern, dass ich im Zugriff bleibe – auf meine Ressourcen, meine Klarheit, mein Gefühl für Proportion.
Es hat sich nicht mal wie „bewusst regulieren“ angefühlt.
Mehr wie: Ich war sicher genug, um nicht durchzudrehen. Und mein Nervensystem hat es für mich geregelt.
Ein anderes Beispiel?
Zeitsprung: Früher hat mich zuverlässig aus der Fassung gebracht, wenn der Drucker nicht funktionierte.
Kennst du das?
Man will noch schnell etwas ausdrucken, hat es eilig – und dann blinkt es, piept es, das Papier klemmt, angeblich ist die Patrone leer, obwohl sie gerade erst gewechselt wurde. Ich war regelmäßig genervt – laut, fluchend, fahrig. Und: kein bisschen effektiver.
Heute? Ich bleibe meistens ruhig. Ich atme. Ich scherze sogar: „Drucker hassen die Menschheit.“ Und bleibe im Zugriff. Auch das ist Regulation.
Aber wie entwickelt sich das eigentlich – diese Fähigkeit, uns selbst zu regulieren?
Wie Regulation entsteht – von Anfang an
In den ersten Lebensjahren regulieren Babys und Kleinkinder sich nicht selbst – sie werden reguliert. Durch Nähe, Blickkontakt, Hautkontakt, Stimme. Das nennt man Co-Regulation. Wenn ein Baby schreit und gehalten wird, beruhigt sich das Nervensystem. Wenn diese äußere Regulation oft genug passiert, entwickelt sich mit der Zeit eine innere Fähigkeit zur Selbstregulation.
Bleibt diese Co-Regulation aus – oder wird sie inkonsistent – entstehen später oft Schwierigkeiten in der Selbstregulation.
Was passiert, wenn Regulation nicht gelingt?
Wenn Regulation nicht zur Verfügung steht, greifen wir auf Ersatzstrategien zurück – oft unbewusst. Dazu gehören z. B.:
– Rückzug und Isolation
– Wutausbrüche und Reizbarkeit
– Perfektionismus und übermäßige Kontrolle
– Konsum von Zucker, Nikotin, Alkohol, sozialen Medien
– „Funktionieren“ statt fühlen
Das sind keine „Charakterschwächen“, sondern Versuche, mit innerer Anspannung oder Leere umzugehen. Das Nervensystem versucht, sich irgendwie selbst zu helfen – nur eben ohne gesunde Regulation.
Warum Regulation so wichtig ist
Wenn wir übererregt oder untererregt sind – also entweder auf 180 oder wie betäubt – verlieren wir den Zugang zu unseren Ressourcen:
– Wir können nicht klar denken
– Keine guten Entscheidungen treffen
– Nicht kreativ sein
Und genau deshalb ist Regulation so zentral – im Alltag, in Beziehungen, im Beruf.
Und übrigens auch für: deine Stimmung, deinen Hormonhaushalt, deinen Stoffwechsel.
Wie fängt Selbstregulation an?
Der allererste Schritt ist nicht „wegdrücken“. Sondern:
📍 Erkennen: „Ich bin gerade nicht in meiner Mitte.“
📍 Anerkennen: „Es ist ok, dass ich das hier gerade nicht ok finde.“
📍 Spüren: Wo sitzt die Unruhe, die Anspannung, die Wut – im Körper?
📍 Beobachten: Was passiert hier gerade – und aus welcher Perspektive sehe ich das?
Und dann fragen:
Was ist jetzt hilfreich?
Das ist der Anfang von echter Selbstregulation.
Nicht perfekt. Aber bewusst. Und das macht den Unterschied.
Möchtest du wissen, wie es weitergeht?
Im 2. Teil geht es um Resilienz. Und im 3. Teil darum, was Regulation und Resilienz unterscheidet – und verbindet.
Herzliche Grüße aus Niendorf,
Marei